Anika Nilles tritt das Erbe des legendären Neil Peart bei Rush an. Die Schlagzeugerin, die aus Aschaffenburg stammt und heute in Mannheim lebt, wird künftig für die kanadische Rockinstitution Rush die Sticks schwingen; eine Sensation, die selbst eingefleischte Fans staunen lässt.
Als Geddy Lee und Alex Lifeson ankündigten, dass Rush nach jahrelanger Pause wieder auf Tour gehen würden, war die erste Reaktion der Fangemeinde weniger Euphorie als Unglaube. Rush, ohne Neil Peart? Der Schlagzeuger und Texter, der mit seinen komplexen Rhythmen und philosophischen Lyrics das Rückgrat der Band bildete, war 2020 an einem Hirntumor verstorben.
Nun also ein Neuanfang mit einer in der altbekannten bekannten Virtuosin: Anika Nilles.
„Wie ersetzt man jemanden, der unersetzbar ist?“
Diese Frage stellte Geddy Lee in dem Video, mit dem Rush ihre Rückkehr verkündeten. Die Antwort heißt Anika Nilles, 42, eine der aufregendsten Schlagzeugerinnen der Welt.
Lee erzählt, wie er auf Nilles aufmerksam wurde: Sein Bass-Techniker, der zuvor mit Jeff Beck gearbeitet hatte, schwärmte von einer deutschen Drummerin – präzise, musikalisch, kraftvoll. Neugierig geworden, lud Lee sie zu einer Probe ein.
„Als wir mit ihr spielten, hörten wir unsere Songs wieder zum Leben erwachen. Da wussten wir: Das ist es. Wir können das schaffen.“
Vom Kindergarten zur Weltbühne
Geboren in Aschaffenburg und aufgewachsen in einer musikalischen Familie, kam Nilles früh mit Rhythmus in Berührung. Ihr Vater, selbst Schlagzeuger, erkannte schnell ihr Talent und brachte ihr die ersten Grooves bei, als sie gerade fünf Jahre alt war. Nach dem Schulabschluss absolvierte Nilles zunächst eine Ausbildung zur Erzieherin und arbeitete eine Zeit in diesem Beruf. Doch die Musik ließ sie nie los. Mit 26 Jahren wagte sie den Schritt und bestand die Aufnahmeprüfung an der Popakademie Baden-Württemberg. 2013 schloss sie ihr Studium mit Bestnote ab.
Bereits während dieser Zeit begann Nilles, mit eigenen Kompositionen international Aufmerksamkeit zu erregen. Die Videos zu ihren Solostücken „Wild Boy“ (2013) und „Alter Ego“ (2014) wurden zusammen mehr als 6,5 Millionen Mal abgerufen. Seitdem ist sie von Europa über Asien bis Nordamerika als Musikerin, Komponistin und Dozentin tätig. 2017 erschien ihr Debütalbum Pikalar, eine Mischung aus urbanem Jazz, Funk und progressiven Elementen, produziert gemeinsam mit dem Gitarristen Joachim Schneiss. Zur Veröffentlichung zierte sie das Cover des Modern Drummer Magazine und erklärte im Interview, der Titel stehe für „Dinge im Leben, die man nicht erklären kann“.
Im Oktober 2018 folgte eine Clinic-Tour durch die USA mit Stationen in Chicago, Fort Wayne und Salt Lake City. Zwei Jahre später veröffentlichte sie mit ihrer Band Nevell das Album For A Colorful Soul, das Platz 3 der iTunes-Jazzcharts sowohl in Deutschland als auch in den USA erreichte. 2021 folgte die EP Opuntia – inspiriert von einem Kaktus, der lange ohne Wasser auskommt, ein Sinnbild für Ausdauer und die Zeit der Pandemie.
Seit demselben Jahr leitet Nilles die Schlagzeugabteilung der Popakademie Baden-Württemberg. 2022 schließlich wurde sie von Gitarrenlegende Jeff Beck für dessen letzte Tour durch Europa und die USA engagiert – ein Höhepunkt, kurz bevor sie nun den nächsten Schritt wagt: Die Bühne mit Rush.
Neuer Schwung für alte Helden
Für Rush bedeutet Nilles mehr als nur ein Ersatz. Seit 1974 hatte die Band kein neues Mitglied mehr aufgenommen – Pearts Einstieg war das letzte Kapitel in einer fast symbiotischen Dreierkonstellation. Nun, da Lee und Lifeson erstmals über ein viertes Bandmitglied, möglicherweise einen Keyboarder, nachdenken, öffnen sich neue Horizonte.
„Ich freue mich darauf, einfach nur Bassist zu sein“,
sagt Lee lachend. Lifeson nickt:
„Es wird Spaß machen, vorne auf der Bühne zusammen zu stehen.“
Dass Nilles nun Teil dieser Legende wird, ist ein verdienter Ritterschlag. Mit ihrem Können, ihrer Erfahrung und ihrer musikalischen Vision hat sie sich diese Chance erarbeitet – Rush wählten eine Musikerin, die dieser Rolle auf höchstem Niveau gerecht wird.
Die kommenden Konzerte versprechen ein besonderes Ereignis zu werden: Es wird spannend zu sehen, wie Anika Nilles die Songs von Rush neu interpretiert und zum Leben erweckt. Wenn die Band im nächsten Jahr auf Tour geht, wird eine Schlagzeugerin aus Mannheim im Rampenlicht stehen – eine Musikerin, die ihren Platz in der Geschichte hart erarbeitet hat.